Free Play & Long Play
Der Fotograf Arne Reimer erfindet, was er ablichtet, neu. Jenseits der Klischees zeigt er die Heroen des Jazz und alte Plattenläden. Es scheint, als sehe man beides zum ersten Mal.
In den 1940er-Jahren entsteht in kleinen Clubs in New York der Bebop, vor allem ausgehend von Charlie Parker und Dizzy Gillespie die ihren Hörnern unerhörtes entlocken: ein free play in nie dagewesener Form. Es folgen, sich überschneidend und nicht klar abgegrenzt, Cool-Jazz, Hardbob, Souljazz und gänzlich befreite Musik, der Free Jazz. Unser Bild dieser Musik ist bestimmt von schwarz-weißen Fotografien, auf denen coole Musiker im Zigarettenrauch verschwinden, von Extremen der Drogensucht und frühen Toden. Vielleicht sind diese Klischees schon Grund genug gewesen für den Fotografen Arne Reimer die vielen noch lebenden Heroen dieser Zeit zu besuchen, einige von ihnen sind über 90 Jahre alt. Seine Reportagen für das Magazin Jazz thing & Blue Rhythm sind inzwischen in zwei großformatigen Bildbänden versammelt. Reimer besucht allerdings nicht die Klischees, sondern vornehmlich alte Männer (und einige Frauen), portraitiert sie in ihrer privaten Umgebung, in einfühlsamen Farbfotos, die meist nahe und herzliche Hausbesuche dokumentieren. Ganz außergewöhnlich sind auch die Texte, die ebenfalls von Reimer stammen: sie enthalten erhellende Erkenntnisse über den Jazz, erzählen von der Geschichte Amerikas und dem Einfluss der rassistischen Atmosphäre, von Tragik und Lebensglück und der nie endenden Inspiration durch Musik. So tragisch die Lebensgeschichten auch sein mögen, es wird selten geklagt, kaum Nostalgie, stetiger Blick nach vorn – vielleicht definiert sich der Jazz so:
es gibt nur die Gegenwart,
es gibt immer neues zu entdecken.
Lieber als über eine nebulöse Kreativität sprechen sie über ihr lebenslanges Üben, Stunde um Stunde. Erst mit 80 Jahren reduziert der Saxophonist Sonny Rollins sein Pensum – auf zwei bis drei Stunden täglich.
Während manche Künstler sich gern im Jammern einrichten, haben diese Männer geübt, Stunde um Stunde, und das hat ihnen Kraft gegeben und sie vorm Grübeln geschützt. Die Einblicke in die harte Arbeitsmoral geben Aufschluss über die Innovationskraft des Jazz: Das Handwerk ist so internalisiert, dass als Nebenprodukt die Freiheit entstehen konnte, die schließlich diese Musik ausmacht.
Free Play ist etwas für Menschen, die so gut spielen, dass sie der Intuition und dem Gefühl die Steuerung überlassen können. Man sieht auf Reimers Fotografien also permanent Übende – Meister – die sich nie haben unterkriegen lassen; nicht vom Erfolg anderer, nicht vom Apartheitsregime, nicht von Drogen, Ausbeutung durch Plattenlabels oder Ablehnung durch Kritiker und konkurrierende Kollegen.
Viele der alten Herren strahlen eine tiefe Herzlichkeit aus, ganz egal, ob sie – wie einige – an der Armutsgrenze, krank und vergessen oder als pensionierte Professoren und vor ihrem Ferrari abgelichtet werden. Es ist alles dabei, nur zurückgezogen leben sie alle, ganz egal ob Mitten im New York oder auf dem Land. Die Fotografien zeigen kreative Einsiedlermönche, die lieber mit ihren Instrumenten sagen, was sie zu sagen haben.
Das Sprechen darüber ist nur ein sozialer Sonderfall, den die Umwelt ihnen abverlangt. Und gut gekleidet sind sie alle: Es gehört zur Philosophie des Jazz, Hip zu sein und ernsthaft Schick, eine Art Ethos der guten Form. Jazz ist etwas ernstes, man geht zur Arbeit und das im Anzug und Krawatte. Der Leser der Bände wird inspiriert von alten Männern, die immer noch einen offenen Geist, eine aufrechte Haltung, Arbeitsdisziplin, Stilbewusstsein und eine Menge neuer Ideen haben. Gegenüber vielen dieser Meister fühlt man sich alt, auch wenn man jünger ist. Vielleicht macht sie auch das zu Heroen. Arne Reimer hat für Jazz thing inzwischen auch Robert Glasper besucht, der zwischen Jazz, Soul und Hiphop changiert.
Er holte die Sängerin Erykah Badu und andere ins Boot und hat eine hochspannende, experimentelle LP über Miles Davis gemacht. Kein Wunder also, dass Glasper auch auf dem Soundtrack zum Film über Miles Davis (Miles Ahead) die letzte Plattenseite füllt.
Nun hat man selten Fotobildbände in der Hand, deren Textqualität so hoch ist. Die Vorworte des Jazz-Sängers Gregory Porter (Band II) und Roger Willemsen (Band I) in Kombination mit den glänzenden, persönlichen Texten von Arne Reimer können selbstbewusst für sich stehen. Insgesamt liegt damit eine Einführung in Jazz und Jazzgeschichte über schillernde Einzelgeschichten vor, eine endlose Quelle, um neues zu entdecken.
Eng Verbunden mit der aufregenden Zeit des Jazz ist die sich etablierende Vinyl-Kultur; die Langspielplatte löst den Schelllack ab, die legendären Jazz-Label entstehen, der Plattenladen wird zum mythischen Ort.
Der Verlag der Kunstbuchhandlung König hat Arne Reimers Touren durch die uralten Plattenläden, vor allem der USA, in dem außergewöhnlichen Band Long Play veröffentlicht. Auch hier umgeht der Fotograf das Klischee; es geht ihm nicht um den Plattenladenbesitzer hinter seiner Theke. Der Schutzumschlag des Bandes zeigt die schäbige leere Wand eines Schaufensters, in der eine Metallklammer steckt, auf der in besseren Zeiten eine LP stand. Oder wird das Fenster nur gerade neu dekoriert? Der innere Umschlag des Bandes zeigt eine Illustration, kein Foto. Und dieser Zugang bleibt Programm: die Handgeschriebenen Reiter der Plattenfächer, die schäbige Ecke oder der außergewöhnliche Lichteinfall, alte Info-Plakate, Drehständer mit Singles, Wäschekörbe voller Platten, der Kellereingang zu einem Plattenladen erzählen mehr als der bloße Blick auf die wohlgeordnete Kultur der neuen, sortierten, akkuraten Einzelhandelsgeschäfte, die Vinyl verkaufen. Reimer interessieren die Läden, die es bald nicht mehr geben wird – nicht weil Vinyl unterginge – sondern weil eine bestimmte Kultur der unübersichtlichen Freak Shops, der staubigen, fensterlosen Platten-Antiquariate aussterben. In den Fotos der verschwindenden Welt steckt zwar Melancholie, aber keine Trauer; Plattenläden existieren, werden gegründet und laufen hervorragend. Aber die Zeit und das Interieur der Läden verändert sich. Reimer macht das sichtbar. Über irritierende Portraits, seltsame Ecken und eigenwillige Ästhetik. Seine Fotografien dokumentieren seine tiefe, außergewöhnliche Wahrnehmung – er kann Sehen und im gelingt es, uns daran teilhaben zu lassen. Dass sich Verlage finden, die so außergewöhnlichen Zugängen so viel Raum geben und daraus erschwingliche Bücher machen, ist ein Glücksfall. Man darf gespannt sein, was Arne Reimer als nächstes in den Blick nimmt.
Foto: vinylorchids
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Arne Reimer: American Jazz Heroes I. Besuche bei 50 Jazz-Legenden.
Jazz thing Verlag Axel Stinshoff, Köln: 2013.
https://SMG.lnk.to/Jazzheroes
Arne Reimer: American Jazz Heroes II. Besuche bei 50 Jazz-Legenden.
Jazz thing Verlag Axel Stinshoff, Köln: 2016.
https://SMG.lnk.to/jazzheroesvol2
Arne Reimer: Long Play. Koenig Books, London: 2017
(Mit einem Nachwort von Ulf Erdmann Ziegler. Der Band enthält zudem einen historischen Bildteil mit schwarz-weißen Fotografien aus den 1950er bis 1980er-Jahren).
https://SMG.lnk.to/Longplay
Christine Janicek: 33 1/3 Cover Art. Verlag für moderne Kunst. Wien: 2017. (Ausstellungskatalog zur gleichnamigen Ausstellung im Kunstraum Nestroyhof, Wien, mit Beiträgen und mit kuratiert von Arne Reimer. Reimers Fotografien finden sich unter anderem auf den Alben des Labels ECM).
https://SMG.lnk.to/coverart
Ein Romantipp:
Julio Cortázar hat mit dem Kurzroman „Der Verfolger“ (1959) einen schrägen und inspirierenden fiktiven Bericht der letzten Tage von Charlie Parker geschrieben. Es ist der literarische Versuch, die Revolution des Bebop zu verstehen und für jeden Jazzfan ein Genuss.
https://SMG.lnk.to/derverfolger
Ein Filmtipp:
Miles Ahead. Regie: Don Cheadle, Musik: Robert Glasper. USA, 2015.
http://www.imdb.com/title/tt0790770/
Ein Hörtipp:
Robert Glasper & Miles Davis: Everything's Beautiful. Columbia, 2016.
http://www.rollingstone.com/music/albumreviews/robert-glasper-miles-davis-everythings-beautiful-20160602
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